Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist in aller Munde. Akteurinnen und Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft betonen seit Jahren – wenn auch teils aus unterschiedlichen Interessen – wie wichtig es sei, dass Unternehmen die Life-Balance ihrer Mitarbeitenden förderten, also das harmonische Zusammengehen verschiedener Lebensbereiche wie z.B. Beruf, Familie und Freizeit. Dazu braucht es in vielen Firmen ein Umdenken, neue Prioritäten. Gerade alteingesessene Unternehmen tun sich oft schwer mit einem solchen Kulturwandel. Ich frage mich: Warum nicht dort ansetzen, wo Unternehmenskulturen neu entstehen und geformt werden? Wo Unternehmen gerade erst dabei sind, ihre Wertvorstellungen zu definieren? Bei den Startups? Soweit ich das beurteilen kann, ist es gerade hier erstaunlich ruhig, was das Thema Life-Balance angeht. Vielleicht deshalb, weil sich Gründerinnen und Gründer ganz bewusst für ein Lebensmodell entscheiden, das alles andere dem Beruf unterordnet? Weil sie die Regeln selber machen? Oder weil Life-Balance gerade in Startups schlicht und einfach ganz unten auf der Prioritätenliste steht?
Viel wurde schliesslich schon darüber berichtet, wie intensiv die Gründungsphase eines Unternehmens ist. In Porträts und Interviews lese ich immer wieder von Jungunternehmerinnen und -unternehmern, die „voll durchstarten“ und enorme Leistungen erbringen. Sie tragen hohe Verantwortung für den Geschäftserfolg, der zugleich ungewiss ist und ihnen materiell wenig einbringt. Dies unterscheidet sie von Führungskräften vieler etablierter Unternehmen, die zwar auch viel leisten, dabei aber in ein stabiles System eingebettet sind und gut verdienen. Der Druck ist also bei Startups besonders hoch und so auch der Handlungsbedarf aus Sicht der Life-Balance. Selten schafft es dieser kritische Aspekt des Gründens auch in die mediale Berichterstattung, etwa in diesem Artikel auf gruenderszene.de oder im Interview mit dem Mitgründer von Choba Choba: „Die ersten Monate haben wir zu zweit sieben Tage à 15 Stunden pro Woche durchgearbeitet. Ich hatte allein im Oktober 2500 Kundenkontakte, was kaum zu bewältigen war. Es führte zu intensiven Diskussionen mit meiner Frau, die im Moment für unseren Lebensunterhalt aufkommt und gleichzeitig den Grossteil des Haushaltes managt.“
Mit keinem Wort erwähnt wird übrigens die zum Zeitpunkt des Interviews einjährige Tochter, die – so schliesse ich aus den Angaben im Personenporträt – kurz vor Firmengründung zur Welt kam. Viel wird der Gründer von seinem Kind in den ersten Monaten nicht mitbekommen haben. Dieses Beispiel zeigt, dass auch Jungunternehmende keinesfalls nur die berufliche Lebenssphäre kennen, auch wenn dies von aussen oft so erscheinen mag. Der geschäftliche Druck (von dem meist ausschliesslich die Rede ist) hat Folgen für alle Lebensbereiche.
Selbst unter den Digital Nomads, einer aktuellen beruflichen und gesellschaftlichen Avantgarde, machen sich erste Zweifel bemerkbar, ob die Omnipräsenz der Erwerbsarbeit der Weisheit letzter Schluss sei. In einem eindrücklichen Porträt dieser neuen Lebens- und Arbeitsform im Magazin des Tagesanzeigers („Die neuen Hippies…“ Nr. 19/2016) sind die Nomadinnen und Nomaden aufgrund eines nationalen Feiertags für einmal gezwungen, ihre beruflichen Projekte herunter zu fahren. Eine der Jungunternehmenden meint dazu: „Wie schön diese Ruhe ist! Wir arbeiten immer. Vielleicht sollten wir ein paar Regeln einführen.“ Dem bleibt nichts anzufügen.